Das Grausame im Schönen, das Zerrüttete im geordneten System menschlicher Psyche, die Leere auf den vollen Straßen seiner Stadt, das Grau im Wirbel aller Farben – dafür hatte Viktor Hofmann (1884-1911) offensichtlich einen scharfen Blick.
Der im Lilienfeld Verlag erschienene Band “Lüge” bringt als Erstveröffentlichung die prosaischen Werke Hofmanns endlich auf eine Bühne vor das deutsche Publikum. “Zwischen bekannten und unbekannten Dichtern existiert gleichsam eine dritte Kategorie: Personen wie Geister – vergessen, doch nicht zu verteiben.”, so umschreibt Alexander Nitzberg in seinem Nachwort zum Buch den Umstand, daß Viktor Hofmann selbst in seiner Heimat Rußland kaum bekannt ist, dennoch nicht aus dem literarischen Spektrum zu verbannen: 2007 wurde in St. Petersburg sein Gesamtwerk neu aufgelegt.
Hofmann wuchs auf in einer vielerart künstlerisch begabten Familie (Malerei väterlicherseits, seine Mutter war eine begabte Sängerin) und seine Jugend wurde geprägt von der Lektüre deutscher Klassiker der Romantik wie auch durch frühe Kontakte mit namhaften russischen Literaten. Waren die ersten veröffentlichten Werke noch reine Gedichtbände (“Buch der Anfänge” 1905 und “Die Probe” 1909) – die Kritiker veranlaßten Hofmann auch zu einem anerkannten Meister seiner Zeit emporzuheben – schwor er fortan der Poesie ab und wollte nur noch Prosa schreiben, während er in St. Petersburg als Redakteur arbeitete. Ein Buch aus dieser Zeit, angeblich eine Romantriologie vom Konflikt zwischen seelischer und körperlicher Liebe, soll später von ihm selbst vernichtet worden sein – doch gerade diese Thematik steht im Vordergrund vieler Geschichten aus dem Sammelband “Lüge”.
So findet der geneigte Leser in den 29 kurzen Geschichten Zugang zu den Schattenseiten der Liebe und der menschlichen Begierde, wie auch zu den psychischen Verwirrungen zu denen das Empfinden oder Ausbleiben derselben führen kann – aus der Sicht eines Romantikers, der zumeist den mystisch verklärenden Schleier wahrer Gefühle von jeglichem zwischenmenschlichem Umgang hebt und uns auf eine kalte Realität dahinter blicken läßt. Die Stadt als lebendiger grauer Moloch, der Einsamkeit wie auch gefühlsbefreite, rein körperliche Neigungen seiner Bewohner begünstigt, als Verderber warmherziger Beziehungen und taktvollen Umgangs, ist das zweite große Bild neben seinen düsteren Gemälden von der Liebe, das Viktor Hofmann in seinen Texten zeichnet.
“Und rings die Stadt – wie ein erschreckendes, erstarrtes Gesicht, das ich zu gerne verscheuchen würde. Die Häuser, die Häuser – grau, weiß und gelb. Kisten, innerlich lächerlich aufgeteilt, vollgesteckt mit Fenstern, vollgestopft mit Menschen. […] Was geschieht jetzt in diesen Häusern? Könnte man ihnen doch die Hüllen abreißen, in jedes hineinsehen, in jeden Teil, in das stickige Schlupfloch des Menschen.”
In der Kutsche mit der verheirateten Frau, die eine Affäre mit dem Erzähler hat:
“Ich habe das Gefühl, daß ich unbedingt etwas sagen müßte, daß das Schweigen peinlich sei. Aber es gibt nichts zu bereden, und wir brauchen einander ganz einfach nicht. Im Gedächtnis – zerrüttete Bettlaken, ein gespreizter, sich rekelnder Frauenleib, ungeduldiges Auskleiden und müdes Ankleiden mit dem lästigen Schließen der Haken am Rücken. Auf den Lippen eine seltsame Trockenheit von den Küssen. Bedrückt von irgendeiner Unzufriedenheit und Enttäuschung.”
Sinniert hier Hofmann von der Leere einer Affäre ohne echte Liebe, das seltsam hohle Gefühl nach einer Eroberung, von der man glaubte sie haben zu müssen, wobei man sich danach unangenehm fühlt, von der Erwartung blind gemacht und vom Ergebnis enttäuscht?
Ein schockierendes Erlebnis kalter Realität, des Menschen gefangen in den Mechanismen seiner eigenen Gesellschaft, umschreibt Hofmann, als sein Protagonist versucht die Einsamkeit durch eine Eroberung und eine Liebesnacht zu dämpfen:
“Das alles war – wie eine Parodie auf die Liebe. Selbst dieses Wehren, dieses – Was tun Sie da? – alles so, wie es sich gehört. Wie von Federn angetriebene Puppen bewegen sie sich im Raum. Und an tausend Orten geschieht ja jetzt haargenau das gleiche, wird das gleiche gesprochen, ist das alles ja mit äußerster Präzision – vorherbestimmt. Wo ist da die Freiheit?”
Und natürlich der eigentlich unbeschreibliche Schmerz eines gebrochenen Herzens:
“Sie hatte den Kopf vornüber auf den Tisch fallen lassen, so daß ihr Gesicht nicht zu sehen war, eingewickelt in die Ärmel der entkräftet vor sich hingeworfenen Arme und das zerknüllte, durch und durch tränennasse Tuch. Von dort, aus diesem zerknüllten Tuch und den zuckenden Armen, brachen hervor sich häufende, leise, wimmernde Schluchzer, als würde jemand ersticken oder, ertrinkend, verzweifelt zum letzten Mal nach Luft schnappen.”, die Einleitung einer unwirklich anmutenden, aber keinesfalls realitätsfernen Geschichte von der Trennung zweier Menschen.
Zwischen 1909 und 1911 litt Viktor Hofmann mit steigender Intensität an Nervenschwäche, emotionaler Verwirrung und unter Angstzuständen, er nahm sich 1911 in einem Hotel in Paris – offenbar Folge seiner Krankheit – mit einer Schußwaffe das Leben. In einem nicht abgeschickten Brief schrieb er kurz vor seinem Tod an seine Mutter:
“Liebe Mama,
ich bin verrückt geworden. Bin schon ein vollkommener Idiot. Ich möchte dich nur ungern traurig machen, aber mit mir ist es nun ganz vorbei. … Helfen kannst du nicht. Ich erinnere mich an nichts mehr.
Viktor”
Wer sich gerne durch Schatten führen lassen möchte, geworfen von romantischen Träumen, statt ihnen einmal mehr nachzuhängen, der reiche dem Geist Viktor Hofmanns die Hand und lasse sich in die “Lüge” entführen…
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